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Vor ein paar Wochen schrieb ich mehrere Artikel zu meiner Reise durch Marokko und meinen Gedanken und Erfahrungen dazu. Mit vielen hatte ich zuvor gehadert, weil ich Sorge hatte, sie würden sehr einseitig dargestellt werden und zu subjektiv wirken.
Umso mehr hat mich die E-Mail von Lina bewegt, die danach in mein Postfach flatterte. Ich konnte nicht anders, als ihr in allen Punkten recht zu geben, und war unglaublich dankbar, dass sie all das so offen für mich aufgeschrieben hatte. Deshalb fragte ich sie sofort, ob ich ihre Worte mit meinen Leserinnen teilen dürfte. Weil genau diese unterschiedlichen Blickwinkel für uns alle so wichtig sind…
Liebe Carina,
danke dir wie immer für deinen schönen Artikel und deine reflektierten und auch bedacht formulierten Gedanken.
Ich komme zwar nicht aus Marokko, sondern aus Ägypten, trotzdem hat mich der Artikel hier und dort ein wenig getroffen – absolut nicht, weil ich denke, dass irgendetwas nicht richtig dargestellt wurde (ich verstehe selbstverständlich, dass dein Bericht aus deinen Eindrücken resultiert).
Es geht mir viel mehr um den Punkt, dass mir persönlich oft im Gespräch mit Leuten das Gefühl gegeben wird, dass ich als studierte nicht-kopftuchtragende, reisende, allein lebende Muslimin eine absolute Rarität bin und eigentlich die meisten Menschen, die aus meinem Kulturkreis stammen, völlige Hinterwäldler sind. Ich weiß, so hast du das nicht formuliert, und ich übertreibe ein wenig, ich versuche dir nur zu erklären, an welchem Punkt genau es bei mir schwierig wurde, den Artikel zu verdauen.
Ich weiß, man sollte Marokko und Ägypten nicht über einen Kamm scheren. Ich weiß aber auch, dass leider umgekehrt „wir“ oft über einen Kamm geschert werden.
Und beim Lesen des Artikels dachte ich die ganze Zeit nur „Oh Gott, was denken denn jetzt die Leute, die das lesen, über uns? Oh Gott, das bestätigt nur ein grauenhaftes Bild, dass sowieso schon viel zu stark in den Medien gepusht wird!“ (Noch mal, ich schätze dich und deine Artikel sowie deine Ehrlichkeit sehr.)
Vor allem bei folgendem Satz musste ich schlucken: „Ich bin, dank der kostenlosen 13-jährigen Schulbildung, die ich erhalten durfte, gebildeter als die meisten Geschäftsmänner hier. Sie mussten auf Privatschulen gehen, um eine einigermaßen ausreichende Bildung genießen zu können.“
Weißt du, ich hatte schon immer den Eindruck, dass meine Freunde, Freundinnen und Verwandten in Ägypten wesentlich weltoffener sind als jeder Europäer, der noch so viele Länder bereist hat. Aus dem simplen Grund, dass meine Familie jedes Detail des Kulturkreises des Mittleren Ostens versteht, ihnen gleichzeitig aber auch (durch Internet, TV, Film und Literatur) die westliche Kultur extrem vertraut ist. Ich bin schon so oft auf Unterhaltungen gestoßen, wo Deutsche irritiert waren, wenn ich von meiner Heimat berichtete (ich erzählte bspw. von einem Freund, der Skripte für TV-Sendungen schreibt, und als Antwort bekam ich: „Faszinierend, man vergisst immer, dass es bei euch auch solche Jobs gibt.“) – dieser Satz kam übrigens von einem Oberarzt.
Nicht, dass der Bildungsgrad in Deutschland etwas aussagt, aber man sollte zumindest meinen, dass man bei gewissen Ausbildungen eher gelernt haben sollte, die Dinge ein wenig reflektierter zu betrachten.
Tatsächlich sagt aber leider der Bildungsgrad in Ägypten etwas aus, was meiner Meinung nach erheblich zu einer Fehlinterpretation unserer Kultur beitragen kann.
Es ist tatsächlich so, dass bei uns leider eine riesige Lücke zwischen den Bildungsschichten besteht. Touristen und Reisende, so sehr sie sich auch bemühen, lernen selten die Bildungsschicht kennen, die ihrer eigenen am nächsten ist. Ganz platt gesagt, der Standard-Tourist trifft auf Taxifahrer, Guides und Verkäufer. Das sind leider Gottes nicht die Leute, die auch nur im Entferntesten so was Ähnliches wie eine deutsche 13-jährige Schulausbildung genossen haben.
Umgekehrt ist es, denke ich, ähnlich, und man lernt in Deutschland nicht so leicht Reisende kennen, außer man bemüht sich aktiv darum. In der Regel lebt man sein Leben, trifft seine Freunde, hier und da hat man Mal eine/einen CouchsurferIn, aber es ist nicht so, als würde man sich permanent bemühen, spannende Reisende kennenzulernen. Genauso ist es halt auch mit der (zu unserer äquivalenten) Bildungsschicht der Menschen in vielen Schwellenländern, weswegen man nicht so leicht auf sie trifft. Für sie sind Reisende einfach nicht interessant/spannend genug wie mutmaßlich für Leute mit einem niedrigeren Bildungsstand, die eher das Gespräch mit „Exoten“ suchen.
Ich finde es furchtbar, wenn ich immer als die große Ausnahme angesehen werde, weil ich gesegnet bin, in Europa aufgewachsen zu sein. Selbstverständlich bin ich gesegnet, allerdings nicht was meine Weltoffenheit und meine Bildung angeht, sondern was meine Sicherheit und meine Freiheit angeht.
Meine Großtante ist eine renommierte Journalistin, eine andere Großtante hat für UNICEF gearbeitet. Meine Cousine hat gerade in New York einen Master in Creative Writing gemacht und arbeitet bei einer Zeitung, und parallel schreibt sie an einem Buch. Andere Cousinen und Tanten sind Künstlerinnen, Ärztinnen und Ingenieurinnen. Meine Cousinen standen am Tahrir-Platz und haben für die Freiheit ihres Landes gekämpft, sie bilden sich weiter, so gut es geht, reisen genau wie wir, sehen Europäer nicht als Exoten an.
Alles, was du wahrgenommen hast, verstehe ich sehr gut und nehme ich selbst auch wahr, wenn ich in Ägypten bin. Aber ich sehe halt auch diesen riesigen anderen Teil meiner Kultur. Die Geschichten meiner Familie, die Cafés und Bars, die wir besuchen, die Gespräche, die wir haben. Und die sind normal, alltäglich, aber auch komplex und gehen in Richtungen, die ich in Gesprächen mit Europäern nie finden konnte, weil gewisse Gedanken, Sorgen und Probleme für sie gar nicht so nah und bedrohlich sind.
Ich danke dir, dass du dir die Zeit genommen hast, diese E-Mail zu lesen. Mir war es sehr wichtig, meine persönlichen Eindrücke zu berichten, und ich hoffe sehr, dass du irgendwann auch die „normale“ Seite des Mittleren Ostens kennenlernen wirst.
Viele liebe Grüße,
Lina
Lass uns in den Kommentaren wissen, was Du dazu denkst!
Lina ist Musikerin. Mehr über ihre Musik findest Du auch auf ihrer Seite Kassiopeia.
Silke meint
Wirklich faszinierender Beitrag und ein Weckruf für uns, die wir so oft nur einen kleinen Teil einer Kultur zu sehen bekommen. Es ist wirklich schade, wie zum Beispiel die schlimmen Bilder der Nachrichten im Fernsehen unsere Weltsicht prägen. Deshalb müssen wir als Reiseblogger wirklich schauen, wie wir unsere Eindrücke verarbeiten und weitergeben. Keine Kritik an dich. Ich hatte auch schon unschöne Erlebnisse, und das habe ich dann auch geschrieben. Aber es waren Individuen, nicht Kulturen. Eines meiner schönsten Reiseerinnerungen hatte ich übrigens in einem kleinen Dorf in der Türkei, wo Fremde mit uns Brot, Käse und Tee teilten, weil der Shop zu war. Das war eine Woche bevor Erdogan die Elite verhaften ließ und anfing, richtig durchzudrehen. Der Unterschied zwischen Politik und dem eigentlichen Menschen. Interessante Diskussionsanregung!
Renate meint
Liebe Lina,
ich bin bisher immer mit meinem Mann in arabischen Ländern gereist und habe auch mal versucht, ein wenig die Sprache zu lernen. Sind leider nur ein paar Worte. Mir hat Ägypten, Marokko, Tunesien… sehr gut gefallen. Ich mag die Kultur, Musik, das Essen.
Ich finde deinen Beitrag sehr interessant und lesenswert. Zu gerne würde ich auch andere Menschen, außer dem Reiseleiter, Verkäufer und dem Hotelpersonal kennenlernen. Wir haben meist gute Erfahrungen gemacht. Zugegeben der ein oder andere Verkäufer kann sehr nervend sein. Wir sind das nicht gewohnt, aber er will auch nur leben und muss seine Familie ernähren.
Bei uns in Deutschland trifft man auch nicht nur auf gebildete, offene und freundliche Menschen. Wir sollten einfach von einanander lernen.
Liebe Carina,
toll, daß du diesen Gastbeitrag veröffentlicht hast.
LG
Renate
Tamara meint
Danke Lina, für diese tollen Worte!
Lina meint
Danke Silke, Renate und Tamara für die schönen Kommentare! Es freut mich ehrlich sehr, dass ich Dank Carina die Möglichkeit bekommen habe meinen Standpunkt mit mehr Leuten zu teilen. 🙂
Ihr könnt mir gerne jederzeit schreiben, wenn ihr Fragen zu Ägypten habt oder (nochmal) dorthin reisen möchtet.
Liebe Grüße
Lina
Maren meint
Liebe Lina,
ich finde das total super, dass du die Initiative ergriffen hast und auf Carina´s Sicht geantwortet hast. Ich weiß auch zu wenig über die Länder im arabischen Raum, lebe aber seit ein paar Monaten in Kolumbien und erfahre, wie sich eigene Vorurteile in Luft auflösen oder differenzierter und reflektierter werden. Dafür ist das Reisen ja eigentlich da: Dass man lernt und offener wird gegenüber anderen Kulturen. Ich versuche auch immer, mit so vielen Einheimischen wie möglich zu sprechen, trotzdem habe ich das Gefühl, ich kratze nur an der Oberfläche von dem, was ich hier noch lernen könnte. In diesem Sinne hoffe ich, dass noch mehr Leute dein Land so kennenlernen, wie du es siehst, oder zumindest auch die schönen Seiten sehen.
Liebe Grüße!
Pia meint
Liebe Lina,
danke für Deinen sehr zum Nachdenken anregenden Text!
Neben dem bemerkenswerten Inhalt: Du schreibst toll – ich wollte eigentlich nur „mal reinschauen“, habe dann aber bis zum letzten Satz gelesen. Dadurch, dass Du über Deine eigene Lebenssituation und die Deiner Familie so ausführlich erzählst, kann ich mir ein richtig gutes Bild von Dir machen – ohne Dich zu kennen 🙂 Auch Dein sehr respektvoller und empathischer Umgang mit Carina’s Text hat mich beeindruckt.
Ich denke sogar, dass Du Deinen tollen Kommentar vielleicht mal Geo/Merian oder einem anderen Reisemagazin anbieten könntest.
Ich habe das Glück, mit einer Halb-Ägypterin zur Schule gegangen zu sein und dadurch das Land natürlich auch anders erlebt. Und trotzdem hat mich Dein Text auch mal wieder aufgerüttelt und für die nächste Reise sensibilisiert.
Danke, liebe Carina, für Deine immer wieder bereichernden Texte, Gedanken, Inspirationen und Bilder. Schön, dass es Dich gibt!
Liebe Grüße,
Pia
Susana meint
Hallo Lina!
Ein toller Artikel1 Und so wahr!
Ich selbst bin schon in Dubai, Ägypten (Hurghada) und der Türkei als muslimische Länder gewesen. Alleine als Frau. Zum Glück bin ich nicht blond, sonst weiß ich nicht ob das erträglich wäre.
Erleben tut man soviel Anmache wie ich in einem nicht muslimischen Land so noch nie erlebt habe.
Es schockt mich da ich konvertierte Muslima bin, auch wenn ich kein Kopftuch oder so trage.
Du hast wohl recht. Man trifft gewisse Bildungschichten so nicht vor Ort. Was mich persönlich sicher reizen würde generell nette Menschen vor Ort kennenzulernen.
Ich werde im Feb. Mrz nach Ägypten fliegen zum 2. mal. Dieses mal nach Dahab. Ich bin sehr gespannt wie es dort wird. Freue mich auch auf eine Jordanien Tour.. Und hoffe die Lage in Israel beruhigt sich wieder, so dass eine Tour dorthin auch möglich sein wird.
Vielen herzlichen Dank für deinen Bericht!
LG Susana